Welche Faktoren haben deiner Meinung nach den grössten Einfluss auf das psychische Wohlbefinden?
Ich denke, es gibt verschiedene Faktoren, die einen Einfluss auf die menschliche Psyche haben. Zum Beispiel unser körperliches Wohlbefinden, zwischenmenschliche Kontakte aber auch die Ernährung ist zentral. Hinzu kommt die Balance zwischen Aktivität und Entspannung.
«Frühzeitige Hilfe ist der Schlüssel.»
Glaubst du, dass Schulstress ebenfalls eine Auswirkung auf das psychische Wohlbefinden hat?
Davon bin ich überzeugt. Es ist wichtig, dass es einen Ausgleich zwischen Aktivität und Ruhe gibt. Zu viel Stress ist sicherlich nicht gut für das psychische Wohlbefinden.
Denkst du, die Wahrnehmung gegenüber psychischen Problemen hat sich in den letzten Jahren verändert?
Ich glaube, das hat sich verändert und wird sich weiter verändern. In der Altersgruppe zwischen 15 und 25 gibt es Gruppen, in denen es schon fast «schick» ist, wenn man ein Psychisches Problem hat. Das wird dann oft mit einer echten psychischen Erkrankung verwechselt. In den Altersgruppen 45 und älter stelle ich fest, dass psychische Probleme in gewissen Kreisen noch immer stark mit Scham verbunden sind. Unsere Leistung hat in der Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert und es scheint oft keinen Platz für psychische Problem zu haben. Ich denke, es kommt darauf an, in welchen «Bubbles» man sich bewegt.
“Es braucht einen Ausgleich zwischen Aktivität und Ruhe."
Auch wenn psychische Gesundheit unter Jugendlichen weniger tabuisiert ist, findest du, dass es an Schulen dennoch mehr Aufklärung zu diesem Thema geben sollte?
Das glaube ich, ja. Aufklärung ist wichtig, aber auch auf Prävention sollte mehr Wert gelegt werden. Die Schulen sollten mehr darauf achten, dass der Druck und das Stresslevel nicht zu hochgehalten wird.
«Es ist wichtig, hinzuschauen, wie es den Schülern wirklich geht.»
Gibt es Warnsignale, die auf psychische Probleme hindeuten können?
Ja, die gibt es. Es gibt drei Hauptstränge, die darauf hinweisen können, dass jemand psychische Probleme hat. Der erste Strang ist eine Vermeidungshaltung. Man beginnt Alkohol zu trinken oder zu kiffen. Dazu gehört aber auch die übermässige Kontrolle über Essen oder Sport. Der zweite Strang ist ein auffälliges Verhalten nach aussen, etwa zu randalieren oder «Mist zu bauen». Der dritte Strang ist am schwierigsten zu erkennen. Das ist der Zustand, wo man sich nach innen richtet. Man unternimmt nicht mehr so viel mit Freund*innen und bleibt nur noch zu Hause. Um Hinweise bei sich selbst zu erkennen, braucht es Ehrlichkeit: Wie geht es mir wirklich? Das bedingt natürlich, dass man sich gut reflektieren kann. Schlafprobleme könne ebenfalls ein Alarmsignal sein. Allgemein gilt, Veränderung kann ein Warnzeichen sein, bei sich, sowie bei Freund*innen.
Ab wann sollte man sich professionelle Hilfe holen?
Ich finde: je früher, desto besser. Es macht einen Unterschied, ob jemand erst seit zwei bis drei Wochen schlechter schläft oder ob das Problem schon seit langem besteht.
Und was wäre eine gute erste Anlaufstelle?
Eine niederschwellige Möglichkeit ist das Nottelefon +147. Das kann auch dabei helfen zu beurteilen, ob ein Psychiater oder ein Therapeut dazu gezogen werden sollte. Ich habe am Anfang erwähnt, dass die körperliche Gesundheit ebenfalls wichtig ist, deshalb ist sicherlich der Hausarzt auch ein guter erster Schritt. Es kann auch sein, dass man ein körperliches Problem hat.
Gibt es Probleme, mit welchen du besonderes oft zu tun hast?
Momentan habe ich oft mit Panikattacken zu tun. Viele meiner Schüler*innen haben einen enorm grossen Druck in Schule und in der Lehre. Dies kann ein Auslöser von Panikattacken sein.
Wie sollte ein Lehrbetrieb reagieren, wenn er merkt, dass es einem Lernenden psychisch nicht gut geht?
Lehrbetriebe können sich bei uns melden, wenn sie merken, dass es einem Lernenden nicht gut geht. Wir arbeiten dann oft direkt mit dem Betrieb zusammen. Am liebsten ist es mir, wenn die Lernenden direkt auf mich zukommen, so kann ich am meisten bewirken. Grundsätzlich finde ich: Sowohl Lehrpersonen als auch Betrieb sollten psychische Probleme frühzeitig und offen ansprechen. Nur so kann man gemeinsam nach Lösungen suchen.
Was passiert, wenn ein Lernender wegen psychischen Problemen nicht voll arbeitsfähig ist?
Es liegt dann im Ermessen des Betriebes zu beurteilen, ob der Lernende trotz Fehlzeiten das Pensum noch erreichen und eine erfolgreiche Lehre abschliessen kann. Wenn nicht, dann könnte man die Lehre einfach entsprechend verlängern. Zum Beispiel könnte man die Schule bereits abschliessen und anschliessend noch fünf Monate im Betrieb den verpassten Stoff nachholen und eine Nachprüfung absolvieren. Dabei spielt es eigentlich keine Rolle, ob die Ursache psychisch oder körperlich ist.
Welche Strategien helfen gegen Stress im Alltag?
Ich glaube, man kann Stress reduzieren, auch wenn man ihn nicht ganz vermeiden kann. Es gibt eine einfache Lebensgleichung: Wer Stress hat, muss seine Wohlfühlmomente erhöhen. Und häufig macht man das Gegenteil, oder? Meistens hört man dann mit all jenen Sachen auf, die uns Spass machen oder reduziert sie. Ich habe oft Lernende, die einfach mit allem aufhören, was ihnen Spass gemacht hat, und plötzlich finden sie sich in einer Situation wieder, in der sie gar nicht mehr wissen, was ihnen einst wichtig war oder was ihnen Spass gemacht hat. Ich versuche dann, das mit ihnen wieder herauszufinden. Eine gute Übung ist sich zu überlegen: Wann hatte ich heute einen Moment, um durchzuatmen und innezuhalten?
Hast du das Gefühl, die psychische Belastung von Jugendlichen und Erwachsenen unterscheiden sich?
Im Kern unterscheiden sie sich gar nicht so stark, das Gehirn funktioniert bei allen Menschen gleich, vielleicht unterscheidet sich der Inhalt. Erwachsene denken oft, Liebeskummer bei Jugendlichen sei nicht so schlimm wie eine Trennung im Erwachsenalter. Doch ob man 18 oder 55 Jahre alt ist, Herzschmerz fühlt sich gleich an.
Bist du der Meinung, dass sich das Schulsystem verändern muss, um die Psychische Belastung von Jugendlichen zu verringern?
Ich habe den Eindruck, dass Schüler*innen unter viel grösserem Druck stehen als ich damals. Ihr habt mehr Tests, ihr müsst mehr leisten. Das kann aber auch nur ein subjektives Empfinden sein. Ich frage mich oft, ob es wirklich notwendig ist, so viele Tests abzuliefern. Gäbe es nicht eine andere Variante, Wissen zu testen? Die Schulen müssen sich im Zusammenhang mit der KI-Entwicklung ohnehin Gedanken darüber machen.
Was könnte man deiner Meinung nach ändern? Mehr Aufklärung, weniger Tests oder vielleicht eine andere Form der Abfrage?
Man sollte schon von klein an beginne Selfcare zu lernen. Es ist wichtig zu lernen zu sich zu schauen und seine Ressourcen zu beobachten. So kann sich dieser innere Akku nicht einfach leeren, weil wenn der mal unten ist, dann ist es viel schwieriger ihn wieder zu füllen. Ich glaube, es können nicht alle Menschen, auch wenn sie die gleichen Voraussetzungen haben, gleich gut zu sich schauen. Viele Kinder wachsen in Familien auf, in denen enormer Druck herrscht. Für sie ist es selbstverständlich, bis zur Erschöpfung zu arbeiten. Man kann erfolgreich sein, und trotzdem noch gesund leben.
„Wer auf sich selbst achtet, kann besser mit den Herausforderungen des Lebens umgehen.“
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Schulgänge sind leer, es herrscht angenehme Stille. Wir machen uns auf den Weg zu Nick Schöni. Er sorgt dafür, dass im Schulhaus alles mit einer guten Stimmung vor sich hergeht. Wir werden von ihm herzlich empfangen und in einen schön eingerichteten Raum geführt. Noch heute werden wir uns um Streitigkeiten einer Mädchengruppe kümmern. In der letzten Zeit habe es vermehrt Probleme gegeben, Streitigkeiten und Drama in der kleinen Gruppe. Doch für genau solche Fälle ist Nick Schöni da. Er ist Schulsozialarbeiter und begleitet viele Schüler durch ihren Schulalltag. Seine Arbeit ist sehr wichtig, da die Schule einen grossen Einfluss auf die psychische Gesundheit von Jugendlichen hat. Der zunehmende Druck, die vielleicht schwierigen Verhältnisse zu Schulkameraden und die Verhältnisse zu Hause belasten viele Jugendliche. In der Jugendzeit gibt es eine grosse Umstrukturierung im Gehirn, was dazu führt, dass die Freunde oft einen grösseren Einfluss haben als die Eltern. Wenn man es schwer hat, in der Schule Anschluss zu finden oder Ausgrenzung erlebt, wirkt sich das sehr negativ aus. Dies bestätigt auch unser Experte Herr Schöni. Er berichtet von vielen Jugendlichen, die aufgrund Ausgrenzungen bei ihm Hilfe suchen. Viele fühlen sich oft einsam, wenn sie die Pause allein verbringen. Wichtig ist, dass man sich schnellstmöglich Hilfe holt. Umso länger man die Belastungen mit sich herumträgt, umso schwieriger wird es, sie wieder loszuwerden» sagt Corine Bentz Jugendpsychologin. Trotz vieler Hilfeleistungen in der Schweiz bleiben 30% der Jugendlichen mit ihren Problemen alleine. Um einen Einblick zu erhalten, wie es abläuft, wenn man sich Hilfe holt, begleiten wir heute die junge Gruppe. Wir warten auf den Holzstühlen in der Aula auf die Mädchen. Plötzlich laute Geräusche und wenige Sekunden später stehen in der Eingangstür auch schon die Mädchen. Auf den ersten Blick wirken sie wie eine harmonische Gruppe. Dies stellt sich später als Falschannahme heraus. Um den Einstig in die ernsten Themen zu erleichtern, beginnen wir mit einem Pantomime-Spiel. Gerade bei Kindern und Jugendlichen muss man auf eine kreative und lockere Art arbeiten. Das psychische Wohlbefinden ist nicht nur abhängig vom Geist, also Verstand, sondern auch vom Körper und unterbewussten Prozessen. Wenn man eine aufrechte Körperhaltung einnimmt, kann man besser atmen und dadurch fühlen wir uns besser. In der Therapie bei Jugendlichen, sollte man möglichst ganzheitlich arbeiten und jeden Bereich abdecken, sagt Corinne Bentz. Nach dem lockeren Einstieg beginnt die Reflexion der letzten Woche. Gab es Probleme oder Streitigkeiten? Die Mädchen scheinen aber eine friedliche Woche gehabt zu haben, doch der Schein trügt. Nach genauerem Nachfragen stellt sich heraus, dass ein Mädchen gehört hat, wie über sie gesprochen wurde. Um die Situation besser zu reflektieren, geben die Mädchen die Situation mit einem Theater wieder. Wie sich nun herausstellt gab es einen Konflikt, mit viel Drama und Intrigen. Diesen haben die Mädchen probiert, selbst zu lösen, was aber nur bedingt geklappt hat. Die Mädchen sind zum Schluss gekommen, dass sie Fehler gemacht haben, und haben sich entschuldigt. Gerade als wir gedacht haben, das Problem wäre nun gelöst, stellt sich heraus, dass die Ursache noch viel tiefer liegt. Man merkt, wie sich die Stimmung der Gruppe verändert. Zwei Mädchen distanzieren sich räumlich von der Gruppe, doch dies scheint den anderen nicht aufzufallen. Es ist wichtig, auf sein Umfeld zu achten und manchmal nachzufragen. Hierbei sollte man die Leute nicht überfordern. Es ist aber wichtig, dass man es nicht einfach ignoriert, denn das verschlimmert die Situation meistens.
Dies weiss auch Nick, weswegen er probiert, zu helfen. Ihm fällt auf, dass es auch noch Probleme mit dem Thema Eifersucht in der Gruppe gibt. Dieses Problem betrifft allerdings nicht nur sie. Gerade Social-Media übt eine grosse Gefahr für Eifersucht oder Minderwertigkeitsgefühle aus. Eine Gefahr kann sein, dass man beginnt, sein Leben mit dem von Influencern zu vergleichen und beginnt so seine Persönlichkeit und Werte zu vergleichen. Dies kann natürlich auch positive Einflüsse haben, aber oft wird man mit Ratschlägen zum Essverhalten, Schönheitsidealen oder problematischen Rollenbilder konfrontiert, erzählte uns Corinne Bentz. Dazu kommt noch das hohe Suchtpotenzial. In unserem Gehirn wird Dopamin, ein Glückshormon ausgeschüttet, welches gerade in diesem Alter sehr schnell zu Suchtverhalten führen kann. In der Schweiz gibt es viele Stellen, bei denen man sich Hilfe holen kann. Am besten ist es zuerst mit jemandem darüber zu sprechen. Wenn man in seinem näheren Umfeld keine Person hat, gibt es für Jugendliche das Krisentelefon mit der Nummer 147. Diese bietet Hilfe in schwierigen Lebenssituationen. Man könnte auch, wie in unserem Fall, Hilfe bei einem Schulsozialarbeiter suchen. Jetzt hört Nick Schöni gerade gespannt der Gruppe zu und hilft ihnen bei der Suche nach Lösungen. Als das Thema der Pause am Montag aufkommt, überschlagen sich die Gemüter. Die Mädchen reden durcheinander und es scheint ein aufwühlendes Thema zu sein, mit dem viele Emotionen verknüpft sind. Von aussen auf das Szenario zu blicken ist skurril. Man merkt allerdings, dass die Mädchen im Verlaufe der Stunde immer ungeduldiger werden. Gewissen scheint das Thema unangenehm zu sein. Andere würden gerne wieder in den Unterricht. Doch Nick erkennt, wie wichtig es ist, jetzt über dieses Thema zu sprechen und bleibt standhaft. Er bittet die wild durcheinander sprechenden Mädchen zur Ruhe zu kommen, was nach einiger Zeit auch geschieht. Eine nach der anderen kann jetzt ihre Sicht der Situation schildern. Wie sich herausstellt, gab es ein Missverständnis. Zwei der Mädchen wollten mit den anderen drei die Pause verbringen, doch diese drei dachten, dass die zwei Mädchen sie nur ärgern wollen.So entstand die Spaltung der Gruppe. Nach einer kurzen Denkpause erkennt Nick, dass das Problem ist, dass nicht alle zusammen Pause machen wollen. Dadurch fühlen sich die zwei Mädchen ausgeschlossen und schlecht behandelt. Nick reagiert mit viel Einfühlsamkeit. Er probiert den Mädchen zu erläutern, wie sich die Zweier Gruppe fühlen muss. Jedoch stösst er bei diesem Versuch an eine Wand. Von den Mädchen scheinen seine Worte nur abzuprallen und sie scheinen kein Verständnis für die andere Gruppe zu haben. Doch Nick hat schon eine Lösungsidee. Er schlägt vor, dass sie jetzt festgelegte Pausen haben, die sie zusammen verbringen. Die Idee scheint bei den Mädchen gut anzukommen. So verändert sich die Stimmung der Gruppe. Sie scheinen alle glücklich und froh zu sein. Sei es nun, weil sie ihr Problem gelöst haben oder weil sie nun endlich zurück ins Bildnerische Gestalten können. Die Mädchen rennen mit voller Geschwindigkeit über den Holzboden der Aula. Bis ihnen auffällt, dass sie noch ihre Pullover vergessen haben. Also wieder zurück und dann schleunigst in den Unterricht. Nick wendet sich jetzt uns zu. Wir haben eine kurze Nachbesprechung mit ihm und erhalten dadurch nochmals einen besseren Einblick in seine Arbeit. Die Gruppe hat nächste Woche nochmals einen Termin bei ihm. Bis dahin versuchen die Mädchen, seine Idee möglichst gut umzusetzen. Wir verlassen durch die grosse Aula-Tür den Raum und machen uns über den Schulhof auf den Weg zu seinem Büro. Wir verabschieden uns von ihm und begeben uns auf den Nachhauseweg. Die Gedanken schwirren immer noch um den heutigen Tag. Wir sind beindruckt von den Mädchen, dass sie so offen über ihre Probleme gesprochen haben. Wir wollen euch alle motivieren aufmerksam durchs Leben zu gehen.
Wenn ihr jemanden seht, dem es nicht gut geht, bietet ihm eine helfende Hand an. Falls jemand von euch selbst unter psychischen Problemen leidet, solltet ihr euch Hilfe holen. Wenn ihr euch nicht zu einer Fachperson wagt, sprecht mit Bekannten oder wie im Falle der Reportage mit einem Sozialarbeiter. Mit dieser Reportage wollen wir zur Entstigmatisierung dieses Themas beitragen. Es ist keine Schande unter psychischen Problemen zu leiden und es ist wichtig über, dieses Thema zu sprechen.
Sie haben in Ihrem Profil geschrieben, dass Sie, Corinne Bentz, körperliche, kreative und imaginative Methoden brauchen. Was kann man sich darunter vorstellen?
Extrem wichtig im Bezug auf unser psychisches Wohlbefinden ist, dass es sehr stark abhängig vom Verstand und von den Kognitionen ist. Aber eben auch vom Körper und von unbewussten Prozessen. Unser Hirn hat ganz verschiedene Strukturen. Der Teil ganz vorne, womit wir viel arbeiten, wenn wir studieren oder uns weiterbilden, ist unser Verstand. Weiter innen hat es Regionen, die für das Gefühlserleben zuständig sind, wo sehr viel von unseren biografischen Erlebnissen abgespeichert sind. Sehr häufig sind diese auch im Körper abgespeichert. Wenn wir auf Situationen mit Stress reagieren, dann reagieren unsere unbewussten Hirnregionen viel schneller als unser Verstand. Unser Hirn ist phylogenetisch in Schichten aufgebaut. Der Präfrontalkortex ist stammesgeschichtlich sehr spät entwickelt worden. Darum reagieren die unterliegenden Strukturen viel schneller. Unser limbisches System reagiert innerhalb von 200 Millisekunden. Unser Verstand braucht mindestens 900 Millisekunden, meistens braucht er jedoch viel länger.
Was würde das konkret für Ihre Therapie bedeuten?
Ich arbeite oft mit Atem-, Achtsamkeits- und Entspannungsübungen, aber auch mit körperlichen Übungen. Profisportler machen häufig Mentaltraining. Dies hat einen grossen Einfluss auf ihre Leistung.
Bedeutet das, dass der Körper und die Psyche zusammenhängen?
Ja! Einerseits haben unsere körperlichen Empfindungen Einfluss auf unsere Psyche, aber gleichzeitig unsere Psyche auch auf unseren Körper. Wenn wir uns aufrichten und körperliche Haltungen einnehmen, die uns stärken, können wir viel besser atmen. Dadurch fühlen wir uns automatisch besser. Im Zusammenhang mit Angststörungen und depressiven Verstimmungen arbeite ich sehr häufig mit solchen Interventionen. Diese haben einen grossen Einfluss und sind trotzdem sehr einfache Übungen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass ganz andere Gehirnareale aktiviert werden, als wenn man sich nur auf die Psyche konzentriert.
Würden Sie also sagen, dass Ihre Therapieform am wirksamsten bei Jugendlichen ist?
Es kommt sehr auf das Störungsbild an. Es gibt auch Störungsbilder, wo es sehr wichtig ist, dass man auch kognitiv verhaltenstherapeutisch arbeitet. Ich setze jedoch einen ganzheitlichen Ansatz um. Immer mehr wird versucht, möglichst ganzheitliche und Mind-Body Soul-Therapieformen zu implementieren.
«Fragen kann man immer!»
Wo gibt es Unterschiede zwischen der Therapie bei Erwachsenen und Jugendlichen?
Bei Jugendlichen muss man sich bewusst sein, dass es in der Jugendzeit viele körperliche und soziale Veränderungen gibt. Die ganze Gehirnentwicklung nimmt rasant zu. Die Jugendzeit ist ein grosser Umbauprozess. Der Körper verändert sich vom Kind zur erwachsenen Person. Das sind körperlich einschneidende Veränderungen. Dazu kommt die Loslösung vom Elternhaus. Die Eltern sind immer noch wichtig, aber plötzlich werden auch die Freundinnen und Freunde oder erste romantische Partnerschaften sehr wichtig. Nicht alle Jugendlichen, die zu diesem Zeitpunkt etwas Anpassungsschwierigkeiten oder persönliche Krisen haben, entwickeln eine starke psychische Erkrankung. Zum Teil sind es die gleichen Symptome, aber bedingt durch die ganzen biologischen, sozialen und psychischen Veränderungen, die stattfinden. Dies ist wichtig zu berücksichtigen. Als kleines Kind kann man alles sehr schnell lernen, weil die neuronalen Leitungen für alles vorhanden sind. Schon in der Jugendzeit werden die neuronalen Verbindungen, wenn sie nie gebraucht werden, gekappt. Es ist dann nicht mehr so einfach, chinesisch zu lernen, wie es mit 6 oder noch kleiner war. Jugendliche haben diese Dispositionen nicht mehr. Und dafür werden die neuronalen Netzwerke, die wir oft brauchen, viel schneller. Dies ist wie die Umfunktionierung des Hirns. Der vordere Teil des Gehirns, wird zum Denken verwendet und am Schluss ausgebildet.
Könnte es sein, dass die Symptome einer psychischen Krankheit bei Erwachsenen und Jugendlichen unterschiedlich sind?
Es gibt viele psychische Erkrankungen, die man erst ab Mitte Jugendalter oder später diagnostiziert, gerade Persönlichkeitsstörungen zum Beispiel. Aber es gibt ganz klar auch Entwicklungsstörungen, die schon früher anfangen. ADHS, ASS, also Autismusspektrumstörungen, Lernstörungen, Dyskalkulie und weitere Erkrankungen werden schon im Kindheitsalter diagnostiziert.
Gibt es auch Unterschiede bei den Erkrankungen zwischen den Jungs und den Mädchen?
Ja, man unterscheidet zwischen internalisierenden und externalisierenden Störungen. Externalisierend sind Verhalten, die gegen aussen wirken: Wut, Aggressionen, Delinquenz und Impulsivität sind tendenziell öfter bei Jungs. Internalisierende Störungen wie Depressionen, Angststörungen oder Selbstverletzungsverhalten sind häufiger bei Mädchen. Es ist natürlich sehr klischiert, aber es ist so definiert. Die Jungs agieren mehr gegen aussen und die Mädchen fressen es in sich hinein, sind ruhig, zurückhaltend und machen es mit sich aus.
Ist die Anzahl der psychischen Erkrankungen unter Jugendlichen tendenziell steigend?
Ja! Das ist nicht nur meine Einschätzung. Studien zeigen auch ganz klar, dass die Anzahl seit Corona steigt, vor allem bei der Generation Z. Die Isolation sowie Ängste im Zusammenhang mit der aktuellen Weltsituation etwa durch Kriege und Naturkatastrophen können bei vielen Menschen große Unsicherheit und Furcht auslösen.
Hat Social Media einen grossen Einfluss auf die psychische Gesundheit hat?
Social Media hat einen sehr grossen Einfluss. Erstens geht es um den Medienkonsum, den man vor allem in der Adoleszenz nicht gut regulieren kann und dadurch immer mehr konsumiert. Im Gehirn wird Dopamin ausgeschüttet, welches ein Neurotransmitterbotenstoff ist. Dies regt das Belohnungszentrum an und das ist das Fatale. Ein weiteres Problem sind die Influencer, bei denen man das Gefühl hat, das alles perfekt ist. Bei den jungen Frauen ist es häufig dieses Schönheitsideal, welches einen grossen Einfluss hat.
Hat Schlafmangel über längere Zeit eine Auswirkung auf die psychische Gesundheit?
Ja, ganz klar. Eine gute Schlafhygiene ist wichtig. Eine Diskussion zwischen Fachpersonen ist, ob bei Jugendlichen die Schule später beginnen sollte. Die Melatonin Ausschüttung beginnt bei Jugendlichen später. Darum gehen viele Jugendliche später ins Bett. Wenn man zu wenig Schlaf hat, führt das zu solchen Diskussionen. Es gibt auch Schulen, die sagen, dass sie aus diesem Grund explizit später beginnen.
Finden Sie, Schulen sollten mehr Massnahmen zur Prävention von psychischen Erkrankungen ergreifen?
Ja. Ich finde, es wird mehr gemacht als früher. Auch in der Ausbildung von Lehrpersonen. Ich arbeite in der Ausbildung von Lehrpersonen, darum kenne ich mich da aus. Als ich noch als Lehrerin tätig war, haben wir von diesen Themen nur wenig mitbekommen. Heutzutage wird dies immer mehr gemacht, auch in den Lehrbildungsinstituten. Es gibt auch spannende Kampagnen, zum Beispiel die Gesundheitsförderung Schweiz für Lehrpersonen. Die Entwicklung ist im Gange, aber es könnte noch viel mehr gemacht werden.
Und was kann die Gesellschaft zur Entstigmatisierung von psychischen Krankheiten beitragen?
Auch hier gibt es bereits einige vielversprechende Projekte. An verschiedenen Orten werden zum Beispiel sogenannte „Plauderbänke“ oder Begegnungsbänke aufgestellt, auf denen man Platz nehmen, einen Brief schreiben oder Texte lesen kann. Eine einfache Möglichkeit, um über psychische Belastungen ins Gespräch zu kommen. Sehr hilfreich finde ich auch, dass in vielen Zeitungs- oder Onlineartikeln zu diesem Thema mittlerweile konsequent auf Beratungsangebote hingewiesen wird, an die sich Betroffene oder Angehörige wenden können. Solche Maßnahmen tragen wesentlich dazu bei, Hemmschwellen abzubauen und psychische Erkrankungen aus der Tabuzone zu holen. Ich habe das Gefühl, es ist schon eine viel grössere Sensibilisierung da, aber man könnte noch viel mehr machen.
Eine Unicef Studie zeigt auf, dass sich viele Jugendliche keine Hilfe suchen, wenn sie psychische Probleme haben. Wie erklären Sie sich das?
Es ist zum Teil noch stark tabuisiert, offen über psychische Probleme zu sprechen. Einen starken Einfluss hat auch das Elternhaus. Immer wieder erzählen mir Jugendliche, dass psychische Probleme bei ihnen zu Hause ein Tabuthema sind. Die Kultur hat auch einen grossen Einfluss. Ein weiterer Grund ist, dass man cool sein will. Man weiss vielleicht nicht, dass es viele andere gibt, die auch in dieser Situation sind.
Ab wann sollte man sich Hilfe holen?
So früh wie möglich. Es ist immer viel einfacher, sich Hilfe zu holen, wenn man frühzeitig merkt, dass man nicht mehr so leistungsfähig ist, sich erschöpft fühlt oder vermehrt mit negativen Gedanken und Selbstzweifeln zu kämpfen hat. Es gibt ganz gute Angebote, wenn man sich nicht traut, sich an eine Fachperson zu wenden, als Beispiel die 147. Es ist wichtig, dass man solche Dinge auch weiss und für eine niederschwellige erste Beratung in Anspruch nimmt. Es ist häufig der erste Schritt, der schwierig ist.
Was sollte man tun, wenn man merkt, dass es einer Person psychisch nicht gut?
Fragen kann man immer! «Mir fällt auf, du ziehst dich mehr zurück, wie geht es dir? Ich bin da, wenn du darüber sprechen möchtest.» Man kann auch auf die vielen Angebote hinweisen oder sagen, dass man für die Person da ist. Es gibt nichts Schlimmeres für die Leute, als sich von ihnen abzuwenden. Das sind häufig ganz schwierige Situationen. Das macht es immer schlimmer. Ihr könnt nie etwas falsch machen, wenn ihr ein Gesprächsangebot macht.